Souveräner Tänzer auf zwei Hochzeiten

Der Ökonom und Philosoph Philippe Colo untersucht soziale Kipppunkte. So ein Projekt, sagt er sei nur in einem interdisziplinären Umfeld,  wie am Oeschger-Zentrum möglich.

Photo: Ana-Tia Buss

Die Ausschreibung für die Postdoc-Stelle war dem jungen Wissenschafter wie auf den Leib geschneidert.  «Wenn man sich auf eine Stelle bewirbt, muss man doch meistens ein paar Dinge ins rechte Licht rücken», scherzt Philippe Colo, «doch hier konnte ich einfach nur die Wahrheit sagen.»

Und die geht so: Der Franzose hat während seiner ganzen akademischen Ausbildung auf mehreren Hochzeiten getanzt.  Er hat zwei Masterabschlüsse gemacht, einen in Statistik und Ökonomie und einen in Philosophie. Seine Doktorarbeit an der Paris School of Economics nannte sich «Essays über die Grundlagen von Expertenwissen», und er hat Arbeiten geschrieben mit Titeln wie «Rechtfertigung von Zeugenaussagen bei epistemischem Interessenkonflikt» (Philosophie) und «Warum sind die wissenschaftlichen Prognosen zum Klimawandel nicht in der Lage, dessen Eindämmung auszulösen?» (Wirtschaft). Zuletzt war er denn auch in zwei Forschungsgruppen parallel beschäftigt: einerseits in der Gruppe für Erkenntnistheorie über Rationalität an der Universität Zürich und andererseits am Lehrstuhl für Integratives Risikomanagement und Wirtschaft an der ETH Zürich.

«Konzeptionell liegen Philosophie und Ökonomie sehr nahe beieinander», erklärt Philippe Colo. Doch leider treffe dies nicht auf Publikationskultur und Karrieremöglichkeiten zu. «Das Oeschger-Zentrum ist einer der wenigen Orte, wo diese Doppelspurigkeit geschätzt wird.» Tatsächlich, denn die neu geschaffene Postdoc-Stelle zu Social Tipping Points ist am OCCR doppelt verwurzelt, zum einen in der Gruppe «Vergleichende Politik» und zum andern in der Gruppe «Der Klimawandel aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive».

Photo: Creative Commons

Negative und positive Kipppunkte

Das Konzept der Tipping Points - auf Deutsch Kipppunkte - ist in zahlreichen Bereichen der Wissenschaft verbreitet. Es bezieht sich auf kritische Schwellenwerte, bei deren Überschreitung eine kleine Veränderung zu erheblichen und oft irreversiblen Auswirkungen auf die Umwelt oder die Gesellschaft führen kann. In der Öffentlichkeit wohl am besten bekannt sind Tipping Points im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Es geht dabei um die Gefahr, die von negativen Kipppunkten aufs Klima ausgeht. Schmilzt das Eis in der Antarktis ab oder verschwindet der Regenwald am Amazonas, kann das unumkehrbare Folgen für das System Erde haben. Werden solche Kippunkte einmal überschritten, könnte sich das Klima abrupt verändern, und es könnte zu Rückkoppelungen und Kaskadeneffekten kommen.

Die Soziologie hingegen versteht unter Tipping Point einen Zeitpunkt, an dem eine Gruppe ihr Verhalten schnell ändert, indem sie ein zuvor wenig verbreitetes Verhalten übernimmt. Mit Blick auf den Klimawandel hat sich vor diesem Hintergrund das Konzept der positiven Kipppunkte etabliert. Gemeint sind damit gesellschaftliche und technologische Veränderungen, die sich positiv auswirken können, als Weichenstellungen gewissermassen für eine klimafreundliche Zukunft. Ein Beispiel dafür, wie sich positive Entwicklungen gegenseitig verstärken können, sind erneuerbare Energien und die Elektromobilität. Gibt es auf den Strassen zunehmend mehr Elektrofahrzeuge, kommt es zu einer deutlichen Kostenreduktion bei den Battereien. Dies wiederum macht den Einsatz von Wärmepumpen und die Speicherung erneuerbarer Energie günstiger.

Bei der Elektromobilität geht der Blick zurzeit vor allem nach Norwegen, wo Elektrofahrzeuge dank staatlicher Förderung mittlerweile derart vorbreitet sind, dass sie zur neuen Norm werden könnten – der Kipppunkt scheint in greifbare Nähe gerückt.

Photo: Creative Commons

Konzept der Kipppunkte kritisch hinterfragen

Doch sind Social Tipping Points tatsächlich dazu geeignet, eine klimafreundliche Welt zu schaffen? Genau das wollen Philippe Colo und seine Kolleginnen und Kollegen am OCCR in einem interdisziplinären Projekt herausfinden. «Die Rolle der Philosophie in diesem Vorhaben besteht darin zu hinterfragen, ob eine Transformation dieses Konzepts von den Natur- in die Sozialwissenschaften wirklich sinnvoll ist», erklärt Philippe Colo. «Trotz grundlegender Unterschiede werden klimatische und soziale Kipppunkte in der Regel auf ähnliche Weise und mit ähnlichen Instrumenten behandelt, was eine Reihe von erkenntnistheoretischen und methodischen Fragen aufwirft.»

Nach der kritischen Analyse des Kippunkte-Konzepts in der ersten Projektphase sollen in einem zweiten Teil neue potenzielle soziale Kipppunkte identifiziert werden. Und die Forschenden wollen untersuchen, inwieweit sich Social Tipping Points vorhersagen und triggern lassen. Und wie sollen sich bei diesem Vorhaben Ökonomie und Philosophie ergänzen? Philippe Colo fasst das Zusammenspiel der beiden Disziplinen so zusammen: Sie brauchen unterschiedliche Werkzeuge. Ökonomen setzen stark auf Mathematik, was das Vorgehen strikter macht. Philosophen hingegen schmieden Konzepte, womit sich Phänomene viel feinkörniger analysieren lassen. «Wir übernehmen in unserem Projekt so viel philosophische Komplexität wie möglich und bauen sie in den wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz ein, um bei unseren Modellierungen an Rigorosität zu gewinnen.»

Photo: Creative Commons

Noch steht das Projekt erst am Anfang, aber Philippe Colo lässt bereits durchblicken, dass er und sein Team die Tauglichkeit des Kippunkte-Konzepts in einem gesellschaftlichen Kontext skeptisch sehen. «Solche Ansätze mögen in einem lokalen Massstab funktionieren, wir zweifeln allerdings daran, ob das auch auf globaler Ebene funktioniert.» Das grosse Problem der Social Tipping Points sei, dass man damit falsche Hoffnungen wecke. Tatsächlich werden positive Kipppunkte als Hoffnungsträger im Kampf gegen den Klimawandel dargestellt – Philippe Colo findet, das sei eine riskante Wette.

Photo: Creative Commons

Mit dem Zug nach Oslo

Wenn der Philosoph und Ökonom die Tauglichkeit des Konzepts in weltweitem Massstab in Frage stellt, heisst das noch lange nicht, dass er generell daran zweifeln würde. Er glaubt daran, dass sich gesellschaftliches Verhalten über Vorbilder beeinflussen lässt, und darum will er Wissen darüber einfliessen lassen, wie Entscheidungen gefällt werden. Experimente hätten gezeigt, so erzählt er, dass Menschen generell unterschätzten, wie viele Leute bereit seien, sich klimafreundlich zu verhalten – etwa mit dem Zug zu reisen, statt mit dem Flugzeug. Alle hätten den Eindruck, die andern wollten sich drücken, und das stehe guten Entscheidungen im Weg.

Deshalb will Philippe Colo in seinem Projekt nicht zuletzt neue potenzielle Kipppunkte kreieren. Zum Beispiel eine Mobilitätsplattform, auf der nicht nur ersichtlich ist, wie viel CO2 ein Verkehrsmittel verglichen mit anderen für eine bestimmte Strecke verursacht, sondern auch, ob Reisende eine klimafreundliche Alternative wählen würden. Benutzerinnen und Benutzer dieser Plattform sähen dann zum Beispiel, dass 20 Prozent der User bereit wären, mit dem Zug, statt mit dem Flugzeug von Bern nach Oslo zu reisen. Diese Angaben sollen dazu dienen, dem sogenannten Trittbrettfahrer-Effekt entgegenzuwirken, unter dem der Kampf gegen den Klimawandel leidet. Will heissen, die Menschen sagen sich «Warum sollte ich mich bemühen, den Zug zu nehmen, wenn es sonst niemand tut?» Wenn wir hingegen feststellen, dass viele andere bereit sind, diese Anstrengung zu unternehmen, fällt diese Logik in sich zusammen, da meine Handlung eine Auswirkung haben wird.

Ob solche Transparenz tatsächlich motivierend wirkt, soll im Rahmen des OCCR-Projekts in einem Laborversuch untersucht werden.

Das Beispiel mit der Reise nach Norwegen ist übrigens nicht aus der Luft gegriffen. Philippe Colo hat kürzlich selbst zwei Tage im Zug an eine Konferenz in Oslo verbracht. Diese Erfahrung, sagt er, habe seine Sicht auf die Realität des Reisens verändert. «Was es braucht, ist genau dieser neue Mindset. Hier muss sich vor allem etwas ändern. Der Wandel zu einem auf lange Sicht verantwortungsvollen Verhalten muss bei der Einstellung geschehen.»

(April 2024)