Der geschärfte Blick hinter die Politikkulissen

Die Politikwissenschafterin Marlene Kammerer geht der Frage nach, was es braucht, damit aus Absichtserklärungen griffige Klimapolitik wird. Sie untersucht dazu das Funktionieren des Politsystems in unterschiedlichen Staaten.

Marlene Kammerer

Drei Länder hat Marlene Kammerer auf ihren akademischen Wanderjahren bisher näher kennengelernt: Deutschland, die Schweiz und Finnland. Wie dort Politikwissenschaft betrieben wird, so müsste man meinen, unterscheidet sich wohl kaum – zu ähnlich sind sich diese Länder. Stimmt so nicht. Marlene Kammerer jedenfalls hat durchaus Unterschiede festgestellt: «Die Schweiz ist stark quantitativ ausgerichtet, hier stehen statistische Methoden und Netzwerkanalysen im Vordergrund. In Deutschland hingegen sind qualitative Studien viel häufiger.» Und in Finnland hat die Politikwissenschafterin beobachtet, wie ihre Kolleginnen und Kollegen teilnehmende Forschung betreiben. Zum Beispiel wenn sie sich mit Migrationsfragen beschäftigten und dazu über Monate Mitgliederversammlungen von Genossenschaftssiedlungen besuchen. «Ein spannender Ansatz», meint Marlene Kammerer, die seit 2018 am OCCR forscht.

In ihrer eigenen Forschung befasst sich die Postdoktorandin mit Klimapolitik und beschäftigt sich unter anderem mit den Akteuren, die in diesem Feld Einfluss nehmen und den politischen Diskurs bestimmen. Dabei, so sagt sie, hatte sie es in allen drei Ländern «mit den üblichen Verdächtigen» zu tun: politische Parteien, Parlament, Regierung und Interessenvertreter. «Da gibt es keine Überraschungen.» Ganz im Gegensatz zu den Philippinen etwa. Dort, so habe eine Masterarbeit am OCCR gezeigt, spielten im öffentlichen Klimadiskurs zum Beispiel auch religiöse Gemeinschaften eine wichtige Rolle.

Climate Negotiations

Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit

In ihrem neusten Projekt geht Marlene Kammerer den Versprechen nach, die Staaten auf den internationalen Klimaverhandlungen machen. Warum, so will das vom Swiss Network for
International Studies finanzierte Forschungsvorhaben wissen, wird national oft nicht umgesetzt, was international versprochen wurde? In einem ersten Schritt ermittelt das von Kammerer koordinierte interdisziplinär zusammengesetzte Projektteam, wie gross die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in den einzelnen Staaten ist. Dazu wurde eigens eine Messmethode entwickelt. «Wir hoffen, mit Hilfe dieses Index besser zu verstehen, weshalb die Performance von Staaten in der Klimapolitik nicht so gut ist, wie sie sein sollte», erklärt Marlene Kammerer. «Es bringt niemandem etwas, wenn auf den Klimakonferenzen grossmundige Versprechungen gemacht werden, die sich gar nicht umsetzen lassen.»

Das Projekt «What international negotiators promise and domestic policymakers adopt: Policy and politics in the multi-level climate change regime» setzt auf unterschiedliche Ansätze, um schliesslich eine Theorie zu entwickeln, die erklären soll, welche Faktoren begünstigen, dass Verhandlungsversprechen eingehalten und im Rahmen nationaler Regulierungen umgesetzt werden. Unter anderem werden im Rahmen des Projekts Politnetzwerke analysiert, ökonometrische Analysen erstellt und Experten interviewet. Darunter auch möglichst zahlreiche Vertreter von Verhandlungsdelegationen an der COP 26 nächsten Herbst in Glasgow.

Climate Negotiations

Die «Worte-vs.-Taten-Lücke»

Auch wenn das Forschungsvorhaben erst 2021 richtig anläuft, ist Marlene Kammerer nicht um Hypothesen dazu verlegen, weshalb in der Klimapolitik Reduktionsversprechen und Realität vielfach auseinanderklaffen. Es gäbe viele Gründe, die zur Erklärung der Differenz beitragen könnten, sagt die Politikwissenschafterin – von der Verletzlichkeit eines Lands gegenüber dem Klimawandel, über den Einfluss von Lobbyorganisationen bis hin zur Zusammensetzung einer Verhandlungsdelegation. Übrigens: Die Forschenden rechnen auch damit, dass es Staaten, gibt in denen das Parlament nationale Klimaziele beschlossen hat, die über die international gemachten Versprechen hinausgehen. Vor allem in Skandinavien.

Das Projekt zur «Worte-vs.-Taten-Lücke» arbeitet mit diversen Partnern zusammen, darunter auch solchen von ausserhalb der akademischen Welt wie etwa dem WWF Schweiz und der Internationalen Energieagentur (IEA). «Wir versprechen uns von dieser Zusammenarbeit einen Realitätscheck», sagt Marlene Kammerer, «und wollen von unseren Partnern erfahren, welche Aspekte unserer Forschung für die Praxis tatsächlich relevant sind.» Eines der Projektziele sind schliesslich konkrete Anleitungen, die einen ambitionierten Klimaschutz fördern sollen. Vorgesehen sind zum Beispiel Leitlinien zur Schulung von Verhandlungsdelegationen aus dem globalen Süden.

Friday for Future demonstration

Marlene Kammerer beschäftigt sich als Wissenschafterin seit Jahren mit Klimaschutz – wie optimistisch blickt man vor diesem Hintergrund persönlich in die Zukunft? «Das kommt stark auf die Tagesform an», meint sie vielsagend. «Im Kontext der Corona-Problematik befürchte ich, dass Klima- und Umweltaspekte zu kurz kommen.» Obwohl: Der politische Wille zum Klimaschutz sei ja eigentlich da, und es seien auch Stück um Stück Erfolge zu sehen. Auch der Druck von der Strasse zeigt Wirkung. «Die Tatsache, dass das Schweizer Parlament aus seinem laschen Vorgänger eine relativ griffige Version des CO2-Gesetzes gemacht hat», gibt die Postdoktorandin zu bedenken, «hat zweifellos mit den Fridays for Future zu tun.»

(November 2020)