Die Ozean-Modelliererin

Die OCCR-Forscherin Charlotte Laufkötter untersucht die Auswirkungen von Klimawandel und Plastikverschmutzung in den Weltmeeren. Die ambitionierte Meereswissenschaftlerin erklimmt so Schritt um Schritt auf der akademischen Karriereleiter.

Wie findet eine Forscherin ihr Thema? Manchmal stehen zu Beginn eher unbedeutende Begebenheiten. Zum Beispiel ein Strandspaziergang. Wie viele andere Touristinnen auch beobachtete Charlotte Laufkötter in ihren Ferien besorgt, wie die schönsten Strände mit Plastik vermüllt sind. Ganz gleich wo auf der Welt. «Diese Erlebnisse haben mich zum Nachdenken gebracht», sagt die Forscherin. Und später fand sie heraus, wie wenig eigentlich über das Phänomen der globalen Plastikverschmutzung im Meer bekannt ist. Ein klarer Fall von Forschungsbedarf. Charlotte Laufkötter hatte ihr Thema gefunden.

Falsch. So einfach, wie hier skizziert, ging das natürlich nicht. Und in wenigen Worten lässt sich diese Geschichte auch nicht erzählen. Ihren Anfang nimmt sie nämlich weit weg vom Meer im deutschen Mönchengladbach. Da verschlingt ein kleines Kind Atlanten und träumt sich an den Ozean. «Das Meer hat mich immer fasziniert, obwohl wir als Familie nie hingefahren sind», erzählt Charlotte Laufkötter. «Ich war ein Büchernarr und wusste schon früh, dass ich Ozeanwissenschaftlerin werden wollte.»

Über Computerwissenschaften zur Ozeanographie

Ihr Vater allerdings, ein Mathematiker, rät ab. Viel zu unsicher die Jobaussichten. Er überzeugt seine Tochter, Computerwissenschaften zu studieren. Keine schlechte Wahl, findet Charlotte Laufkötter im Nachhinein, denn das Programmieren liege ihr. Und ohne diesen Hintergrund wäre ihre Karriere wohl anders verlaufen. Doch nach ein paar Studienjahren wird ihr klar, dass sie mehr will. Sie macht ein Praktikum am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, ist begeistert und setzt durch, dass sie neben Computerwissenschaften in Aachen im Nebenfach Ozeanographie in Bremen studieren kann. Ihre Dissertation macht die Forscherin anschliessend in Umweltphysik an der ETH Zürich. Sie untersucht, wie die Produktion von Biomasse im Ozean auf den Klimawandel reagiert.

Fragt man Charlotte Laufkötter heute nach ihrem Beruf, gibt sie eine zweistufige Antwort. Erstens: Ozeanwissenschaftlerin. Zweitens und präziser: Modelliererin des biogeochemischen Ozeankreislaufs. «Dieses Wortungetüm hat damit zu tun», sagt sie beinahe entschuldigend, «dass mein Forschungsgebiet sehr interdisziplinär ist.»

Plastikmüll bleibt nahe an den Küsten

Dank diesem besonderen Hintergrund betritt Charlotte Laufkötter nun wissenschaftliches Neuland und liefert Erkenntnisse zur Verschmutzung der Weltmeere mit Plastikmüll. So zeigen ihre Modellierungen zum Beispiel, dass der grösste Teil des Plastiks nicht wie bisher angenommen hinaus auf den offenen Ozean gelangt, sondern strandet oder küstennah im Wasser treibt. Dies zeigt eine kürzlich publizierte Studie, die sie zusammen mit einem ihrer Doktoranden verfasst hat.

Am höchsten, so die Untersuchung, ist der Anteil von gestrandetem Plastik in den Weltregionen mit den grössten Quellen von Plastikmüll. Dazu zählen Gebiete wie Südostasien und das Mittelmeer. Nach aktuellen Schätzungen landeten zwischen 1-12 Millionen Tonnen Plastik im vergangenen Jahr in den Weltmeeren.Wieviel Plastik in den vergangenen 25 Jahren insgesamt in den Ozean gelangt ist, versucht die Berner Modelliererin zurzeit in einem Forschungsprojekt abzuschätzen.

Das Meer im Kopf

Charlotte Laufkötter befasst sich vorwiegend im Kopf mit dem Meer. Feldarbeit auf dem Ozean? Das gab es bis heute nur ein einziges Mal auf einem Forschungsschiff zwischen Spitzbergen und Grönland. Die tägliche Arbeit dieser Meereswissenschaftlerin sieht anders aus: Zum einen brütet sie über Forschungsfragen und möglichen Hypothesen und diskutiert diese Ideen mit Berufskolleginnen und -kollegen. Zum anderen programmiert sie Modelle und füttert sie mit Messdaten. «Entscheidend dabei ist, die Unsicherheiten der Parameter zu berücksichtigen», so die Modelliererin. «Wir rechnen durch, wie die Welt unter den getroffenen Annahmen aussehen könnte. Das perfekte Modell gibt es nicht.»

Der Anteil des Plastiks, der an den Strand gespühlt wird, ist dort am grössten, wo es die grössten Quellen von Plastikmüll gibt. Dazu zählen Gebiete wie Südostasien und das Mittelmeer. Am tiefsten sind die Konzentrationen in wenig bewohnten Regionen wie den Polargebieten, der Küste Chiles und Teilen der Küste Australiens.

Auftritt im japanischen Fernsehen

Charlotte Laufkötters bislang aufsehenerregendste Publikation befasste sich nicht mit Plastikmüll, sondern mit den Folgen des Klimawandels. In einem Beitrag im renommierten Fachmagazin «Science» legte sie dar, dass Hitzewellen in den Weltmeeren durch den menschlichen Einfluss über 20 Mal häufiger geworden sind. Sie zerstören Ökosysteme und schaden der Fischerei. Dass Interesse der Medien an diesem Artikel war gross. Weltweit. Unter andrem gab die Berner Forscherin dem staatlichen japanischen Fernsehsender NHK ein Interview. All der Aufmerksamkeit zum Trotz sagt Charlotte Laufkötter: «Ich möchte nicht dieser Publikation wegen bekannt sein, sondern meines eigenen Themas wegen.»

Tatsächlich befasste sie sich nur relativ kurz mit marinen Hitzewellen. Bei einem akademischen Ausflug so zu sagen. Nach einem Postdoc an der Princeton University erhielt die Ozeanografin eine weitere Postdoc-Stelle an der Universität Bern. In der Forschungsgruppe von Thomas Frölicher, der sich schon länger mit Hitzewellen im Ozean befasst. Doch eigentlich stand sie in den Startlöchern für den Aufbau ihrer eigenen Gruppe. Thema: marine Plastikverschmutzung.

Auf dieses Forschungsgebiet hatte sie in einem Förderantrag an den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gesetzt. Ihre Überlegung: Obwohl das Thema von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist, wird es erst von wenigen Forschenden bearbeitet. Da winkt gewissermassen ein Alleinstellungsmerkmal. Ein nicht zu unterschätzendes Plus im hart umkämpften akademischen Jobmarkt. Laufkötters Leistungsausweis und ihr Thema überzeugten: 2018 erhielt sie vom SNF ein begehrtes Ambizione-Stipendium. Es läuft über vier Jahre und erlaubt den Aufbau einer eigenen kleinen Forschungsgruppe.

Viel Freiheit, wenig Sicherheit

Wer nun denkt, Charlotte Laufkötter befasse sich bloss aus Kalkül mit Plastikmüll, der irrt. «Ich würde mich nicht mit Themen beschäftigen», sagt sie, «die mich persönlich nicht interessieren und die mir nicht relevant erscheinen.» Die wissenschaftliche Freiheit sieht die ehrgeizige Forscherin auch als eine Art Kompensation. «Im jetzigen Stadium ist meine Karriere sehr unsicher und verlangt viele Opfer – das muss ja irgendwie aufgewogen werden!»

Längst plant die Modelliererin den nächsten Schritt auf dem Weg, der einmal zu einer festen Stelle als Professorin führen soll – wenn alles gut geht. Sie hat sich beim Europäische Forschungsrat ERC beworben, der EU-Institution zur Förderung herausragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Und beim Programm Eccellenza des SNF, das Förderprofessuren finanziert. Die beiden Proposals drehen sich um den biologischer Kohlenstoffzyklus im Ozean. Ganz kurzgefasst möchte Charlotte Laufkötter den Transport von organischem Material, insbesondere Kohlenstoff, in den tiefen Ozean besser verstehen. Dazu will sie Daten aus dem mobilen Beobachtungssystem der Weltmeere Argo nutzen. Es besteht aus einer Flotte von rund 4000 automatisierten Treibbojen (floats), mit denen Temperatur, Salzgehalt und Strömungen gemessen werden. Zunehmend werden auch chemische und biologische Komponenten beobachtet. Diesen Teil der sogenannten Argo-float-Daten will Laufkötter für ihre Grundlagenforschung mit Modellen kombinieren.

Zurück zum Kind, das sich das Meer vorstellte. Die träumerische Begeisterung von damals ist einer sehr konkreten Leidenschaft gewichen. «Was mich am Ozean so fasziniert: Es ist alles dreidimensional und wird zusätzlich durch die Strömung beeinflusst. Da muss man immer den Kontext mitdenken.» Komplex, so mag es Charlotte Laufkötter, nicht einfach. Was sie interessiert, sind nicht die Details, sondern das grosse Ganze.

(August 2021)