Mit Nadelstichen auf der Suche nach ältestem Eis

Nur wenige Menschen auf der Welt haben soviel Erfahrungen mit Eisbohrungen wie der Berner Physiker Jakob Schwander. Nun entwickelt er am Oeschger-Zentrum eine ultraleichte Bohrausrüstung, mit deren Hilfe 1,5 Millionen Jahre altes Eis in der Antarktis gefunden werden soll. Im vergangenen Sommer wurde die neue Technologie erfolgreich in Grönland getestet.

Ein Jugendtraum wird wahr. Als Jakob Schwander an seiner ersten Eisbohr-Expedition teilnahm, hatte er soeben sein Grundstudium in Physik abgeschlossen und arbeitete als . Diplomand an der Abteilung für Klima- und Umweltphysik der Universität Bern. Seit dieser ersten Reise nach Grönland hat ihn eine Idee nicht mehr losgelassen: Wie wäre es, wenn man auf all das tonnenschwere Gerät verzichten und mit einem Bohrer im Taschenformat in die Tiefen des Polareises vordringen könnte? Bohrlöcher von lediglich ein paar Zentimetern Durchmesser. Nadelstiche ins Eis gewissermassen.

Heute, 30 Jahre später, wird Schwanders visionäre Vorstellung endlich Wirklichkeit. Seine Idee von der Nadelstichtechnologie hat sich als realisierbar erwiesen und soll eine wichtige Rolle bei einer grossangelegten Forschungskampagne spielen: der Suche nach dem ältesten Eis. Forscher des Oeschger-Zentrums sind an vorderster Front an dieser internationalen Initiative beteiligt, die in der Antarktis Eis mit Klimainformationen über die vergangen 1,5 Millionen Jahre bohren will - der Kern soll beinahe doppelt so weit zurückreichen, wie das älteste bisher analysierte Eis.

Ungeklärter Rhythmuswechsel zwischen warm und kalt

Der Blick in die Klimavergangenheit soll insbesondere zum besseren Verständnis des Wechselspiels zwischen Warm- und Kaltzeiten beitragen. Vor rund einer Million Jahren - das zeigen Untersuchungen von Meeressedimenten - fand eine dramatische Veränderung dieses Hin und Hers statt. In der Zeit vor der sogenannten mittelpleistozänen Wende wechselten sich Eiszeiten und Warmphasen alle rund 41'000 Jahre ab, danach alle 100'000. Weshalb es zu diesem Wandel kam, ist ein Rätsel, doch die Klimaforschung vermutet, dass Treibhausgase dabei eine entscheidende Rolle spielten. Diese Vermutung soll nun eine Bohrung ins älteste Eis der Erde bestätigen.

Dass es 1,5 Millionen Jahre altes Eis gibt und in welchen Gebieten der Antarktis es zu finden ist, hat kürzlich eine Studie von Hubertus Fischer vom Oeschger-Zentrum gezeigt. Wo genau sich das Bohren lohnt, soll nun eine Erkundungsbohrung mit der Nadelstichtechnologie zeigen. Das Gerät, das dabei zum Einsatz kommen soll, ist nicht grösser als eine elektrische Zahnbürste und liegt ganz unscheinbar auf Jakob Schwanders Bürotisch: der Prototyp eines Bohrers, hergestellt mit einem 3D-Drucker. Er funktioniert nach dem sogenannten Moineau-Prinzip, wobei der Motor von der Bohrflüssigkeit angetrieben wird, die zwischen Erdoberfläche und Bohrer zirkuliert. Nach diversen Testbohrungen weiss Jakob Schwander, dass seine Idee in der Praxis funktioniert: „Wir konnten zeigen, dass die Technologie im Prinzip funktioniert.“ Doch davon später mehr.

Nicht mehr als zwei Flugzeugladungen Material

Das Vorhaben, dem Schwander scheinbar gelassen entgegensieht, mutet schier unglaublich an. Das zwei Zentimeter kleine Loch, das er bohren will, soll mindestens 2,5 Kilometer tief bis auf den Felsgrund unter dem antarktischen Eisschild reichen. Und dies in nicht einmal zwei Wochen Bohrzeit. "Rapid access drilling" nennt sich die Technik. Ihr grosser Vorteil: der minimale logistische Aufwand. Eine konventionelle Eisbohrung von dieser Tiefe benötigt mehr als 40 Tonnen Bohrflüssigkeit. Die Berner Eisbohrer hingegen wollen mit einer Tonne auskommen. "Alles in allem wollen wir uns auf zwei Tonnen Material beschränken", sagt Jakob Schwander, "das ist die Grundidee des Projekts." Ziel ist, die gesamte Ausrüstung mit höchsten zwei Twin Otter-Flügen an die Bohrstelle mitten in der Antarktis transportieren zu können.

Nicht nur Laien staunen über diese Absicht, sondern auch andere Forschungsgruppen, die an einer "Rapid access"-Methode tüfteln. Vor allem in Frankreich und den USA. Kürzlich stellten die Eisbohrspezialisten einander an einem Workshop ihre Pläne vor. Dabei ging es unter anderem auch um die Filteranlage, mit deren Hilfe das gebohrte Eismehl, an dem die Altersbestimmungen durchgeführt werden, von der Bohrflüssigkeit trennt. Die Amerikaner planen ein Gerät so gross wie ein Schiffscontainer, jenes von Jakob Schwander soll nicht grösser werden als ein Bierkasten.

Der Berner Physiker verlässt sich bei seinem RADIX (minimal resources rapid access drilling system) genannten Projekt nicht etwa bloss auf jahrzehntelange Erfahrung. Er hat die Machbarkeit der Nadelstichtechnologie mathematisch nachgewiesen. Dazu hat er eine Formel entwickelt, die ein Dutzend Parameter berücksichtigt - von der Bohrgeschwindigkeit bis zum Druck, den das Bohrloch aushalten muss - und damit den kleinstmöglichen Durchmesser berechnet. "Ich bin froh, dass mich meine Intuition nicht getäuscht hat", kommentiert er das Resultat seiner Berechnungen, "ein Lochdurchmesser von zwei Zentimetern sollte möglich sein."

Testbohrungen in Grönland

Der Wissenschaftler, der sich in 30 Jahren Arbeit im Dienst der Eiskernforschung zum Ingenieur entwickelt hat, hat für seinen Beitrag an der Suche nach dem ältesten Eis alles bedacht. Auf seinem Pult liegt nicht nur der Moineau-Bohrer, sondern auch ein modifizierter Bohrkopf und ein Stückchen des kevlarverstärkten Schlauchs, der im Polareis zum Einsatz kommen soll. Und in seinem Büro in den Tiefen des Gebäudes der Exakten Wissenschaften der Universität Bern machte sich Schwander auch intensiv Gedanken über das Verhalten des 2,5 Kilometer lange Schlauches im Bohrloch. Zum Beispiel darüber, welche Bohrflüssigkeit verwendet werden muss, damit das Bohrmehl tatsächlich wie geplant im Hohlraum zwischen dem Schlauch und der Wand des Bohrlochs hochsteigt.

Antworten auf all diese Fragen lieferten diverse Versuchsbohrungen. Zuerst auf dem Plaine Morte Gletscher in der Schweiz, dann erstmals unter polaren Bedingungen auf der Halbinsel Renland in Grönland und schliesslich im vergangen Sommer auf dem Eisstrom in Nordosten Grönlands, wo Jakob Schwander und seine Kollegin Barbara Seth am internationalen Eisbohrprojekt EGRIP teilnahmen. Die Eistemperaturen lagen während der Probebohrung bei -31 C°, und das stellte die Berner Forscher vor neue, ungeahnte Herausforderungen: Zwischen Eis und Rohr bildeten sich sogenannte Schrumpfspalten, die sich glücklicherweise mit Bausilikon abdichten liessen. „Es war eher Zufall, dass das funktioniert hat“, sagt Jakob Schwander, „in der Antarktis werden wir das anders lösen müssen.“

Höchst zufrieden ist der Physiker hingen über die im grönländischen Eis erzielte Bohrleistung. In nur anderthalb Stunden wurde mit seinem Bohrer auf eine Tiefe von 20 Metern gebohrt. Das ist in etwa so schnell, wie auch beim Einsatz der neuen Bohrtechnologie in der Antarktis geplant. „So viel Eis in so kurzer Zeit hat wohl noch kaum jemand gebohrt“, sagt Schwander schmunzelnd, „und dies bei so schlechten Wetterbedingungen, wie ich sie selten erlebt habe.“ Noch gilt es aber diverse technische und logistische Probleme zu lösen, damit RADIX bereit ist für die Suche nach dem idealen Bohrstandort für das „Oldest Ice“ Projekt. Sie soll bereits Ende 2017 anlaufen. Doch der nie um eine Idee verlegene Entwickler ist optimistisch: „Wir haben Lösungsansätze für alle bestehenden Probleme. Bloss läuft uns die Zeit davon.“

Ende dieses Jahrzehnts – wenn alles gut läuft - wird das zwischen 30 und 50 Millionen Euro teure Projekt hoffentlich von Erfolg gekrönt sein. Denn zum Bohren des eigentlichen Eiskerns reichen Nadelstiche nicht; dazu braucht es konventionelle Technologie. Der Grund: Am ältesten Eis sind derart viele Forschungsgruppen interessiert, dass der Kern mindestens zehn Zentimeter Durchmesser haben muss, um genügend Probenmaterial für alle geplanten Analysen zu liefern.
(2016)

Testbohrung auf dem Plaine Morte Gletscher in den Schweizer Alpen

Internationales Eisbohrkern-Projekt EGRIP im Nordosten Grönlands