Der tiefgefrorene Pollenbericht

Die OCCR-Forscherin Sandra Brügger rekonstruiert vergangene Vegetationsveränderungen. Als Spezialistin für im Gletschereis eingelagerte Pollen hat sie es in die «New York Times» gebracht.

Bild: Manu Friedrich

Nur so zum Jux hat Sandra Brügger ausgerechnet, wie viele Pollenkörner und Sporen sie im Lauf ihrer Doktorarbeit gezählt hat. Innerhalb von vier Jahren waren es gegen 1,8 Millionen. Eine Zahl zum schwindlig werden. Das muss man sich mal vorstellen: Auf den gläsernen Objektträgern ein Pollenkorn suchen. Mikroskop scharfstellen. Das Korn seiner Eigenschaften entsprechend einer Pflanzenart zuordnen. Zähler betätigen. Immer und immer wieder. 1 800 000 Mal. Die Klimawissenschafterin erkennt heute auf einen Blick 400 verschiedene Pollentypen und sagt: «Die Pollenanalyse ist tatsächlich ein besonderes Gebiet, manchmal habe ich auch am Abend beim Einschlafen weitergezählt.»

Wie viel Spass ihr das Forscherleben macht, das natürlich nicht nur aus Pollenzählen besteht, hätte Sandra Brügger selbst wohl am wenigsten gedacht. «Bis zur Masterarbeit hatte ich mit Wissenschaft nichts am Hut», erzählt sie in der Kaffeeküche eines in die Jahre gekommen Backsteingebäudes, ihrem Arbeitsort am Institut für Pflanzenwissenschaften, nur einen Steinwurf vom Botanischen Garten entfernt.

Feldforschung im Amazonas

Dann aber stiess sie auf der Suche nach nach einem Thema für ihre Masterarbeit auf ein Projekt ganz nach ihrem Geschmack: Feldarbeit des Geographischen Instituts in Bolivien. Das versprach Abenteuer und neue Horizonte. Ziel: Anhand eines Sedimentkerns aus dem Lago Rogaguado, einem grossen See im Amazonasgebiet, die Vegetationsgeschichte der Region nachzuzeichnen. Bei der Auswertung der Daten aus diesem natürlichen Umweltarchiv gelangte die Studentin zu erstaunlichen Resultaten, die schliesslich gar in einer angesehenen Fachzeitschrift publiziert wurden. Dank in den Sedimentschichten eingelagertem Maispollen konnte sie nachweisen, dass im Amazonas schon vor 6'500 Jahren Landwirtschaft betrieben wurde – viel früher als bis anhin angenommen.

Sandra Brüggers Interesse an der Forschung war geweckt. Definitiv. Dies umso mehr, als in der Gruppe des Paleoökologen Willy Tinner - von ihm hatte sie das Knowhow für die Arbeit mit  Pollen als Zeugen vergangener Umwelt- und Klimaveränderungen gelernt -  neue Herausforderungen warteten. Ein grosses, vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Vorhaben mit Namen «Paleo fires from high-alpine ice cores». Das interdisziplinäre Projekt wollte aus Eisbohrkernen die Geschichte der Waldbrände in vier verschiedenen Regionen der Welt rekonstruieren. Und darüber hinaus die Vegetationsdynamik und frühe landwirtschaftliche Aktivitäten in diesen Gebieten abbilden – der Teil des Projekts, den Sandra Brügger schliesslich in ihrer Dissertation bearbeiten sollte.

Von nun an hatte sie es nicht mehr mit Sedimenten aus dem Boden eines tropischen Sees zu tun, sondern mit Gletschereis. Eisbohrkerne gelten als hervorragendes Umwelt- und Klimaarchiv, da sich in den Eisschichten Einträge wie Holzkohlepartikel, Russ oder Pollen gut bestimmen und zeitlich sehr präzise zuordnen lassen. Kommt dazu: «Im Eis sind die Pollenkörner superschön erhalten geblieben.»

Bild: Manu Friedrich

Mickey Mouse unter dem Mikroskop

So lernte die Doktorandin, wie man die im geschmolzenen Eis Pollen aufbereitet, entwickelte nebenbei auch noch eine neue, möglichst verlustfreie Aufbereitungsmethode und machte sich ans Zählen: von Pollenkörner des Wegerichs mit ihrer genoppten Struktur, über jene des Süssgrases, bis zu denen der Kiefern, die mit ihren charakteristischen Luftsäckchen an Mickey Mouse Gesichter mahnen. Zuerst regelmässig und dann immer seltener konsultierte sie Standartwerke wie «Aamazone Pollen Manual and Atlas» oder «Pollen et Spores d’Europe», wenn sie sich nicht sicher war, welcher Pflanzenart die fantastischen Mikrofossilien unter dem Mikroskop zuzuordnen waren.

Mittlerweile hat die 31-Jährige ihre Dissertation abgeschlossen und vier Eiskerne analysiert – einen aus dem Altai-Gebirge in der Mongolei, einen vom Illimani in den bolivianischen Anden, einen aus Zentralgrönland sowie einen vom Colle Gnifetti im Monte-Rosa-Massiv in den Alpen. Und sie hat in vier Fachpublikationen beschrieben, was sich über Veränderungen in Klima und Umwelt aussagen lässt, wenn sich im Laufe der Zeit die Zusammensetzung der Pollen und damit der Arten wandelt.

Was war rückblickend die spannendste Erkenntnis dieser vier Jahre Forschungsarbeit? «Wir haben ein Fenster auf die Zukunft des russischen Teils des Altai aufgestossen», sagt Sandra Brügger, «denn wir konnten mit grosser Präzision nachweisen, wie empfindlich die Wälder im mongolischen Teil dieses Gebirges in der Vergangenheit auf Klimaveränderungen reagiert haben. Und wir können zeigen, was das für die künftige Entwicklung der Vegetation bedeutet.» In den vergangen 5'500 Jahren sind die Wälder in Zeiten von Trockenheit jeweils geschrumpft und haben sich in feuchteren Phasen zum Teil wieder erholt. Heute aber sind sie vielerorts verschwunden, an ihrer Stelle hat sich Steppe ausgebreitet. Bei einer Veränderung des Niederschlagsregimes droht den Wäldern auf der Nordseite des Altai in Sibirien ein ähnlicher Kollaps. Klimaszenarien gehen davon aus, dass es in Zentralasien künftig trockener wird. «Unsere Studie hat gezeigt», so Sandra Brügger «dass für die Vegetationsdynamik, besonders was die Wälder betrifft, die Verfügbarkeit von Wasser wichtiger war als die Temperaturveränderungen.»

Bild: Aurel Schwerzmann

Extremes Wetter, Missernten und Pest

Die Pollenzählerin hat im Wissenschaftsbetrieb nicht nur mit ihren Publikationen Fuss gefasst. Sie hat ihre Arbeit auch an Tagungen und Treffen vorgestellt – von Krasnoyarsk in Russland über Kyoto und New Orleans bis nach Davos. Dort fand im vergangen Sommer «Polar 2018» statt, eine internationale Konferenz mit 2500 Teilnehmenden, die Forschung in Antarktis, Arktis und im hochalpinen Gebirge betreiben. Sandra Brügger hielt einen Vortrag über ihre Analyse des Eiskerns vom Colle Gnifetti, wurde mit einem «Early Career Poster Award» ausgezeichnet und fiel einer kanadischen Wissenschaftsjournalistin auf. Unter dem Titel «Europe’s Triumphs and Troubles Are Written in Swiss Ice» schrieb diese daraufhin einen Artikel für die «New York Times». Darin schilderte sie, wie OCCR-Mitglied Margit Schwikowski, eine erfahrene Schweizer Eiskernspezialistin und ihre junge Kollegin an Hand von 1000-jährigem Gletschereis und der darin gefrorenen Pollenkörner aufzeigen können, wie Europa im Mittelalter von Wetterextremen, Missernten und Pest gezeichnet war.

Bild: PSI

Im ausführlichen Bericht kommt auch der bekannte amerikanische Klimaforscher Ray Bradley zu Wort, der die Schweizer Studie in einen internationalen Kontext stellt. Nur wenige Forscher hätten bisher detaillierte Untersuchungen von Pollen in Eiskernen gemacht, erklärt er. «Die meisten Eiskerne stammen von den Polen und sind weit weg von vielfältigen Vegetationsgebieten. Diese Studien waren ziemlich langweilig und haben nicht viel aufgezeigt.» Ganz im Unterschied zur Arbeit von Sandra Brügger und ihren Kollegen im interdisziplinären «Paleo fires»-Projekt.

Von Laufsteg und Baustelle zur Klimaforschung

Sandra Brüggers Familie übrigens hat ihren grossen Auftritt im Weltblatt mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen – allzu oft hat sie ihre Tochter und Schwester schon im Rampenlicht gesehen. Nicht als Wissenschafterin zwar, sondern in ihrem früheren Leben als erfolgreiches Model. Nach dem Gymnasium lebte die in Laupen bei Bern aufgewachsene junge Frau ein Jahr lang in Mailand und stand tagtäglich auf dem Laufsteg und vor der Kamera. Später finanzierte sie sich mit Modelaufträgen das Studium – vor allem den Winter über in Kapstadt. «Speziell Spass gemacht hat mir das nicht», sagt sie, «und ich könnte mir heute nicht mehr vorstellen, den ganzen Tag rumzusitzen und übers Schminken zu sprechen. Es war einfach eine Möglichkeit, zu reisen und Geld zu verdienen.» Als sie mit der Doktorarbeit anfing, war mit dem Modeln deshalb Schluss.

Zwischen Matur und Studium legte die heutige Paleoökologin neben ihrem Mailand-Abstecher noch ein zweites Zwischenjahr ein. Sie arbeitete als Handlangerin mit Maurern und Sanitärinstallateuren auf dem Bau. Als Teenager habe sie zeigen wollen, dass eine Frau jeden Job machen könne - und dies auch tun müsse.

An Willen also scheint es Sandra Brügger nie gefehlt zu haben. Und manchmal auch nicht an einer rebellischen Ader. Beim Mittagessen in der Institutsküche erzählt sie von einem Methodenstreit. Er habe sie derart geärgert, dass sie hieb- und stichfest nachwiesen wollte, warum das Verfahren, das sie zur Aufbereitung von im Eis eingeschlossenen Pollen entwickelt hat, anderen Techniken überlegen sei. In der wissenschaftlichen Publikation, die sie dazu verfasst hat, geht es vereinfacht gesagt darum, wie sich Dank der «Brugger Method» die Menge des Eises deutlich reduzieren lässt, die nötig ist, um eine statistisch aussagekräftige Anzahl von Pollen zu extrahieren. Hintergrund: Probenmaterial aus Eisbohrkernen ist selten und unter Klimaforschern heiss begehrt. Der in einem Fachjournal erschienene Artikel sorgte für einiges Aufsehen und wurde derart häufig heruntergeladen, dass ihr der Präsident der International Glaciological Society schrieb, wie sehr er sich über ihren Erfolg als junge Forscherin freue.

Und nun, wie geht es weiter im facettenreichen Leben der Sandra Brügger? «Ich könnte das noch ewig weitermachen», sagt sie beim Rundgang durch die Büro- und Laborräume, in denen sie die letzten vier Jahre verbracht hat, «diese Arbeit macht mich glücklich.» Kein Wunder also, will es die Pollenspezialistin mit einer akademischen Karriere versuchen. Nächstes Ziel: ein Postdoc-Aufenthalt in den USA.

(April 2019)