Das Gasthaus zur Krone und die Klimaforschung

Der Historiker Oliver Wetter geht neue Wege. Er spürt für seine Klimarekonstruktionen nicht nur ungewöhnliche Quellen auf, sondern setzt auch naturwissenschaftliche Methoden ein.

Für einmal suchte Oliver Wetter in den Sälen des Basler Staatsarchivs nicht gezielt nach Akten, sondern liess sich von der Neugier treiben. Dabei sprang ihm eine Dissertation ins Auge. Ihr Thema: Die Auswertung von historischen Spitalrechnungen. Beim Durchblättern der Arbeit wurde dem jungen Historiker klar, dass die sogenannten Basler Spitalbücher eine wahre Fundgrube an Klimainformationen darstellen.

Das heisst, wenn man, um die Ecken zu denken weiss. Denn die Spitalverwalter des 15. und 16. Jahrhunderts zeichneten nicht etwa Wetterbeobachtungen auf, sondern notierten ausschliesslich Einnahmen und Ausgaben. Doch wer wie Klimahistoriker Wetter mit dem historischen Kontext vertraut ist weiss: In der Vergangenheit verfügten die Basler Spitäler über grosse Ländereien, zu deren Bewirtschaftung sie während der Erntezeit Taglöhner einstellen mussten. Tauchen in der Buchhaltung eines Jahres zum ersten Mal Ausgaben für Taglöhner auf, entspricht dieses Datum deshalb dem Beginn der Ernte. Vergleicht man diese Einträge von Jahr zu Jahr, lässt sich das klimatische Auf und Ab über Jahrzehnte und Jahrhunderte nachzeichnen, und schliesslich kann man aus den Angaben mit Hilfe von statistischen Methoden vergangene Temperaturen rekonstruieren. Der Trick dabei: An Hand von gemessenen Daten aus jüngerer Zeit – in Basel wird die Temperatur seit 1755 aufgezeichnet – lassen sich Rückschlüsse auf die Temperaturen vor der Erfindung des Thermometers ziehen. Kombiniert man die Messwerte für den Erntebeginn mit den historischen Aufzeichnungen, können indirekte Informationen in quantitative Klimadaten umgewandelt werden. Ein Verfahren, das die Klimaforschung "Kalibrierung" (Gleichsetzung) nennt.

Buchhaltung als Klimaarchiv

Mit anderen Worten, die Basler Spitalrechnungsbücher von 1454 bis 1705, mit denen Oliver Wetter arbeitet, stellen ein wertvolles Klimaarchiv dar – vergleichbar mit natürlichen Archiven wie Baumringen oder Eisbohrkernen, doch zeitlich viel präziser. Das Basler Staatsarchiv verfügt über einen weltweit einmaligen Schatz an solchen Quellen. Der Grund: Die Aktenbestände haben seit dem verheerenden Erdbeben von 1356 in Basel unversehrt überlebt. Dies ganz im Gegensatz zu anderen bedeutenden Archiven, die immer wieder von Kriegen zerstört wurden.

Neben der Temperaturrekonstruktion erforschte Oliver Wetter in seiner Dissertation vor allem die historischen Rheinhochwasser. Sein Ziel: Der quantitative Vergleich der Flutkatastrophen in vorinstrumenteller Zeit mit jenen ab 1808, als in Basel die ersten hydrologischen Messungen vorgenommen wurden. Anders als beim Blick auf die historischen Temperaturen konnte Wetter bei der Rekonstruktion der Hochwasser auf eine ganze Palette historischer Quellen zurückgreifen. Sie reichen von den Aufzeichnungen mittelalterlicher Chronisten bis zu Zeitungsberichten aus dem 19. Jahrhundert und Gemälden. Ermöglicht wurde die Arbeit des Historikers durch den Umstand, dass sich in Basel im Verlauf der Jahrhunderte eine eigentliche Tradition der Hochwasserbeschreibungen entwickelt hatte. Will heissen: Die Chronisten nahmen bei den Schilderungen der Fluten immer auf dieselben Referenzpunkte im Stadtbild Bezug.

Historische Quellen und hydrologische Modelle

Einer dieser mehr als ein Dutzend Punkte, die der Historiker identifiziert hat, ist die Hausecke des Gasthauses Krone, das sich direkt gegenüber der Basler Schifflände befand und über Jahrhunderte hinweg zur vergleichenden Beschreibung herangezogen wurde. So reichte das Hochwasser von 1506 "bis in das Gasthaus", jenes von 1664 "bis zur vorderen Tür", und zum Hochwasser von 1764 vermerkte ein Chronist, es habe "nicht ganz an die Hausecke des Kronengasthauses" herangereicht. Praktischerweise bezogen sich noch im 19. Jahrhundert Basler Lokaljournalisten bei ihren Hochwasserberichten auf Referenzpunkte wie das "Kroneneck". Dies zu einer Zeit, als die Pegelstände und Abflussmengen des Rheins längst mit Instrumenten gemessen wurden. Der parallele Gebrauch der beiden Aufzeichnungssysteme ermöglichte die Umwandlung der Schilderung in Zahlenwerte. Und so konnte Oliver Wetter schliesslich eine noch nie dagewesene, 743 Jahre lange Reihe rekonstruierter Hochwasserereignisse vorlegen.

Der Clou dabei: Dank dem Einsatz eines hydrologischen Modells liefert der Klimahistoriker auch quantitative Angaben zu den Wassermassen. Erstmals lassen sich nun Fluten aus vorinstrumenteller und instrumenteller Zeit direkt miteinander vergleichen. Dieses Forschungsergebnis ist nicht bloss von wissenschaftlichem Interesse. Versicherungen etwa, die ihre Prämien anhand von sogenannten Jahrhundertereignissen berechnen, sind brennend an möglichst langen Vergleichsperioden interessiert. Erst beim Blick über die Jahrhunderte zeigt sich, ob Hochwasserkatastrophen in denen vergangen Jahrzehnten tatsächlich häufiger geworden sind oder nicht. Ein Thema übrigens, das auch in der aktuellen Diskussion um die Sicherheit der Schweizer Atomkraftwerke von Bedeutung ist.

Oliver Wetter ist mit seinen Resultaten mehr als zufrieden: "Zuerst fand ich es einfach faszinierend, mit meiner Arbeit etwas zum besseren Verständnis des Klimawandels beitragen zu können. Heute bin ich nicht bloss fasziniert, sondern weiss, über welches Potenzial die historische Klimatologie verfügt. Wir stehen erst ganz am Anfang der möglichen Auswertungen."

(2011)