Doppelte Herausforderung für eine Unerschrockene

Chantal Camenisch will ganz nach oben auf der universitären Karriereleiter. Dazu gehören nicht zuletzt Forschungsaufenthalte im Ausland. Die Umwelthistorikerin lebt zurzeit als Gastforscherin im französischen Rouen und zieht demnächst nach York in den Norden Englands weiter. Selbstverständlich ist auf diesen akademischen Wanderjahren auch ihre junge Familie mit dabei.

Am 30. Mai 1431 starb hier Jeanne d’Arc – auf einem lodernden Scheiterhaufen. Wir stehen im historischen Zentrum von Rouen, blicken über den von Fachwerkhäusern gesäumten Marktplatz und sprechen über Hexenverbrennungen. Warum, so fragt Chantal Camenisch, wurden in Rouen abgesehen von Jeanne d’Arc kaumHexen verbrannt, in Bern hingegen viele? Gut möglich, dass dieser Gegensatz mit dem Arbeitsgebiet der Berner Klimahistorikerin zu tun hat, denn in der Schweiz warf man den Hexen unter anderem vor, Hagel herbeizuzaubern.

Wer mit Chantal Camenisch in der einst zweitgrössten Stadt Frankreichs unterwegs ist, trifft an allen Ecken und Enden auf Bezüge zu vergangenem Wetter und Klima. An der Place de la Haute Vieille Tour etwa, wo früher mit Getreide gehandelt wurde, einem Schlüsselprodukt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Getreidepreise waren damals mindestens so wichtig wie heute der Ölpreis – und nicht nur von Kriegen abhängig, sondern auch von der Witterung. Oder ein paar Schritte weiter an den Ufern der Seine, der Lebensader der einst bedeutenden Hafenstadt. Vom Quai aus hätten wir im 17. Jahrhundert eine schwankende Pontonbrücke bestaunen können. Mit dieser ersetzte man eine alte, stabile Brücke, die aber immer wieder durch Hochwasser beschädigt worden war – der neuen Brücke machte dann allerdings in den klirrend kalten Jahren des sogenannten «Maunder Minimums» das Treibeis zu schaffen.

Archiv-Rundreise mit Mobilitäts-Stipendium

All diese Orte und Fakten sind aufs Engste mit einem grossangelegten Forschungsprojekt verknüpft, für das die junge Historikerin je ein Jahr in den Archiven von Rouen und York, danach mehrere Monate in Leipzig und schliesslich wieder in Bern verbringt. Das Vorhaben nennt sich «Klima und Gesellschaft in der Vormoderne: Eine vergleichende Studie zur Anpassung an extreme Witterung und Klimawandel im Schweizer Mittelland, Yorkshire und der Normandie von 1315 bis 1715». OCCR-Forscherin Chantal Camenisch will herausfinden, wie die drei  Regionen von der natürlichen Variabilität des Klimas beeinflusst wurden – und mit welchen Strategien die Gesellschaften auf extreme Wetterereignisse und auf das sich wandelnde Klima reagiert haben. Gab es Parallelen, Unterschiede oder gar einen Wissenstransfer?

Für dieses innovative Projekt – bislang hat sich keine historische Studie auf diese Art mit den Klimafolgen beschäftigt – hat Chantal Camenisch ein «Advanced Postdoc.Mobility»-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds erhalten. Es soll ihrer akademischen Karriere gehörig Schubverleihen. Durch dieses Forschungsvorhaben will sie nicht nur zusätzliches Fachwissen erwerben, sondern sich auch verstärkt international vernetzen und schliesslich an der Universität Bern eine Habilitationsschrift einreichen. Den Überblick hat sie noch lange nicht «Was das Projekt speziell macht, ist der Vergleich», sagt Chantal Camenisch an ihrem Arbeitsplatz auf dem hoch über der Stadt gelegenen Campus der Universität Rouen. «Mich interessiert, weshalb eine Gesellschaft besser mit Extremereignissen wie Hochwassern, Stürmen oder ausser gewöhnlicher Kälte umgehen konnte als eine andere.» Deshalb durchkämmt die Historikerin zurzeit mehrere zehntausend Seiten Protokolle des Stadtrats von Rouen, verfasst in Cauchois, dem lokalen Dialekt. Mit Glück stösst sie dabei auf Einträge wie jenen vom 28. Mai 1573, in dem davon die Rede ist, wie die Obrigkeit Bauarbeiten ausführen liess und die damit betrauten hungrigen Armen mit Brot bezahlte: «chacun 1 pain cuyt et rassis, du poix de 16 onces». Während dieser Hungersnot, die neben anderen Gründen auch auf das Wetter zurückzuführen war, wurden 1200 Männer, 600 Frauen und 600 Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren so verpflegt.

Der Spielraum für solche Hilfsaktionen war in Rouen allerdings begrenzt, da die Stadt nicht über Grundbesitz ausserhalb ihrer Mauern verfügte und deshalb zum Beispiel gezwungen war, einen Kredit aufzunehmen, um Getreide in der Bretagne zu kaufen. Ganz anders in Bern, das in seinem Kornhaus strategische Getreidevorräte hielt, die durch die Abgaben der Bauern in Naturalien («Zehnt») immer von Neuem angehäuft wurden.

Noch ist es für Chantal Camenisch viel zu früh, um Schlüsse zu ziehen aus den Hinweisen auf Anpassungsstrategien, die sie ihren Protokollen, Korrespondenzen und Chroniken entlockt.

Die Quellen in Rouen haben sich als überaus ergiebig erwiesen. Doch ob sie in den Archiven von York und Bern vergleichbare Informationen findet zur Wechselwirkung zwischen Klima und Mensch, wird sich erst noch zeigen. Kommt dazu, dass Klimafolgen beileibe nicht in jedem Fall gesellschaftliche Auswirkungen haben müssen: Missernten führen nicht zwangsläufig zu Hungersnöten und diese nicht zwingend zu Änderungen in der Gesetzgebung. «Vieles fügt sich erst am Ende eines Forschungsprojekts zusammen, wenn man die Dinge nebeneinanderlegt», spricht sich die Historikerin selbst Mut zu. «Für den Moment habe ich erste Ideen, aber noch lange keinen Überblick.»

Die Familie ist Teil des Abenteuers

Der mehrjährige Aufenthalt an ausländischen Archiven und Universitäten ist für Chantal Camenisch nicht nur wissenschaftlich eine Herausforderung, sondern auch familiär. Die 39-Jährige ist verheiratet, Mutter eines sechsjährigen Sohns und einer zweijährigen Tochter. Die Familie ist da selbstverständlich Teil des Abenteuers. Ehemann Patrick, ein Gymnasiallehrer, hat seine Stelle in Freiburg gekündigt. In Rouen ist er Hausmann, gibt Deutschstunden und knüpft auf dem Spielplatz und im Quartiercafé Kontakte. Dass diese Rollenteilung nach wie vor aussergewöhnlich ist – zumindest in der Schweiz –, ist der Forscherin natürlich bewusst. Doch als exotisch empfindet sie ihr Familien modell nicht: Sie und ihr Mann haben sich schon früher gegenseitig unterstützt, jetzt hält er ihr den Rücken frei, und später wird sich das bestimmt wieder ändern. So unbekümmert Chantal Camenisch über ihre privaten Arrangements Auskunft gibt, so offen spricht sie über ihre Karriereplanung. Das begehrte «Advanced Postdoc.Mobility»-Stipendium ist der ambitionierten Forscherin nicht in den Schoss gefallen. Sie hat ganz gezielt darauf hingearbeitet und zum Beispiel ihre Publikationsliste für den Antrag beim Nationalfonds getrimmt. Dazu gehörten unter anderem, in ihrer Zunft nicht selbstverständlich, Publikationen auf Englisch. Und in ihrem Gesuch ist von einem «nächsten Karriereschritt» die Rede und davon, ihr «wissenschaftliches Profil zu schärfen» und so in Forschung und Lehre «konkurrenzfähig» zu sein.

Und nicht zuletzt hat Chantal Camenisch geschicktes Networking betrieben. 2014 organisierte sie mit zwei anderen jungen Forscherinnen einen interdisziplinären Workshop zum sogenannten «Spörer Minimum», einer Periode besonders geringer Sonnenaktivität im 15. und 16. Jahrhundert. Dazu lud sie auch international bekannte Forschende ein, die sie später bei der Bewerbung für das Forschungsstipendium berieten. Mit Erfolg, wie sich zeigte. «Ich habe gar nicht gewusst», sagt sie lachend bei einem Becher Automatenkaffee auf dem Unicampus von Rouen, «dass es so Spass macht, die eigene Karriere zielgerichtet in die Hand zu nehmen.»

«Ein unglaubliches Privileg»

Wie sich die Forschungstour quer durch Europa schliesslich auf Chantal Camenischs Laufbahn auswirken wird, steht in den Sternen. Sicherheiten gibt es beim Weg nach oben auf der akademischen Karriereleiter keine. Deshalb zählt vorderhand nur eines: «Es ist ein unglaubliches Privileg, sich zwei, drei Jahre lang ausschliesslich mit Quellen beschäftigen zu können.» Reinstes Vergnügen sei das, beteuert die Historikerin. Und man glaubt ihr aufs Wort, wenn sie zum Beispiel von den Passagen in den Ratsprotokollen erzählt, in denen über den nahenden Besuch des Königs berichtet wird. Und von der Debatte darüber, in welcher Farbe sich die Ratsherren von Rouen für den Anlass wohl am besten einzukleiden hätten.

(Mai 2018)